Freitag, 10. Dezember 2010

Die europarechtliche Aufspaltbarkeit des Vertriebs

Das Urteil des EuGH vom 2. Dezember 2010 in der Rs. C-108/09 – Ker-Optika Bt.

In seinem Urteil zur Rechtssache Ker-Optika Bt. folgt der Gerichtshof klar und deutlich den Ausführungen des Generalanwalts Mengozzi, wie sie in seinen Schlussanträgen vom 15.6.2010 (cf. auch den Beitrag Die Mitgliedstaaten als Herren der Gesundheit ihrer Bürger) niedergelegt sind.
Demnach ist eine Einschränkung des Vertriebs von Kontaktlinsen über das Internet, wie sie vom ungarischen Recht vorgesehen wird, als nicht verhältnismäßige Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit einzuschätzen.

Im Rahmen dieses Vorabentscheidungsersuchens hatte der Gerichtshof darüber zu entscheiden, ob die vom ungarischen Recht vorgesehene Beschränkung des Vertriebs von Kontaktlinsen über das Internet einer Prüfung am Maßstab des Europarechts standhält.
Der ÁNTSZ, der ungarische staatliche Dienst für Gesundheitswesen und für den Amtsärztedienst, hatte der Kommanditgesellschaft Ker-Optika untersagt, weiterhin über das Internet Kontaktlinsen zu vertreiben, da deren Verkauf nach den gesetzlichen Regelungen nur in Fachgeschäften gestattet war, die über eine bestimmte Größe bzw. einen bestimmten Zuschnitt verfügen und in denen speziell geschultes Personal (entweder ein Optometriker oder ein Augenarzt) tätig ist, um so die medizinische Beratung des potentiellen Kontaktlinsenträgers in jedem Falle gewährleisten zu können. Diesen Bescheid focht die Ker-Optika Bt. wiederholt an und so gelangte die Frage schließlich zum Gerichtshof, ob eine solche gesetzliche Beschränkung mit dem Europarecht in Einklang stehe.

Die Einzelelemente des Warenvertriebs und ihre grundfreiheitliche Relevanz
Der Gerichtshof machte sich in seinem Urteil das Argument von GA Mengozzi zu Eigen, dass die einzelnen Elemente des Kontaktlinsenvertriebs über das Internet jeweils separat zu betrachten und zu beurteilen seien [Rn. 22]. Letztlich müssten drei Einzelvorgänge unterschieden werden:

(1) der eigentliche Verkaufsvorgang, also der Vertragsschluss
(2) die Lieferung des verkauften Produkts
(3) und evtl. eine vorherige ärztliche Konsultation.

Schon GA Mengozzi führte in Rn. 46 seiner Schlussanträge aus, dass – „[m]ögen auch die Bestellung von Linsen, deren Annahme und der darauf zurückgehende Onlineabschluss des Vertrags unter Umständen elektronisch gesendet werden können“ – „es doch dabei [bleibe], dass die Versendung der Kontaktlinsen an den Endverbraucher keine elektronische, sondern eine körperliche Maßnahme ist.“ Und diese Aufspaltbarkeit der verschiedenen Elemente des Vertriebs von Waren über das Internet bewogen den Generalanwalt dazu, die Lieferung der Kontaktlinsen unmittelbar der primärrechtlichen Fundamentalgarantie der Warenverkehrsfreiheit zu unterwerfen [Schlussanträge Rn. 59]. Genau dies tut auch der Gerichtshof in seinem Urteil und schließt damit die Anwendbarkeit der Richtlinie „über den elektronischen Geschäftsverkehr“ (2000/31/EG) für diesen Aspekt des Internetvertriebs aus [Rn. 41, 44, 46].

Vorliegen einer Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit
Im Folgenden verlässt sich der EuGH ganz und gar auf sein bewährtes Instrumentarium im Bereich der Warenverkehrsfreiheit, indem er die Beschränkung zunächst am Maßstab der althergebrachten Dassonville-Formel sowie an den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und gegenseitigen Anerkennung misst [Rn. 47, 48], bevor er zu einer Untersuchung der ungarischen Regelung im Lichte seiner Keck-Rechtsprechung überleitet [Rn. 51 ff.]. Der Gerichtshof gelangt schließlich zu der Auffassung, dass durch das Verbot des Vertriebs von Kontaktlinsen über das Internet den Wirtschaftsteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten eine besonders effiziente Modalität für den Vertrieb dieser Waren vorenthalten und damit deren Zugang zum ungarischen Markt erheblich behindert wird [Rn. 54]. Der Generalanwalt umschrieb die Vorteile des Online-Vertriebs insofern äußert anschaulich mit der Funktion eines „Schaufensters mit einer grenzüberschreitenden Einsichtsmöglichkeit“, „ohne dass der Wirtschaftsteilnehmer die Kosten und Zwänge zu tragen hat, die mit dem Besitz eines „realen“ Geschäfts einhergehen.“ [Schlussanträge Rn. 65]
Es lag mithin eine unter Rechtfertigungszwang stehende Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit vor.

Ausführliche Rechtfertigungsprüfung
Im Bereich der folgenden Rechtfertigungsprüfung erweist sich der Gerichtshof als äußerst kreativ und findungsreich, indem er sich ausführlich Gedanken über die Möglichkeiten milderer Mittel als der von Ungarn ergriffenen macht.
Als mit der ungarischen Regelung verfolgtes legitimes Ziel macht der EuGH zunächst die öffentliche Gesundheit aus und bekräftigt einmal mehr, dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Daraus resultiere ein Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten, der sie – wie im bereits genannten Beitrag gezeigt – letztlich zu den „Herren der Gesundheit ihrer Bürger“ macht [Rn. 58].
Die Eignung der nationalstaatlichen Maßnahme, Kontaktlinsen nur von Fachpersonal aushändigen zu lassen und durch Fachpersonal eine entsprechende Beratung vornehmen zu lassen, um das Verletzungsrisiko infolge der Anwendung von Kontaktlinsen zu minimieren [Rn. 62 f.], bejaht der Gerichtshof noch [Rn. 64]. Jedoch bei der Erforderlichkeit der vom ungarischen Gesetzgeber ergriffenen Maßnahme, der Frage also danach, ob dem Staat zur Verfolgung seines Zieles auch mildere, die Warenverkehrsfreiheit weniger beschränkende Mittel zu Gebote gestanden hätten, zeigt er sich streng: Zunächst stellt er fest, dass jegliche ärztlichen Untersuchungen und Konsultationen vor dem Gebrauch von Kontaktlinsen lediglich fakultativ seien [Rn. 68]. Dies veranlasst den EuGH dazu, die in einem solchen Falle denkbaren Alternativen durchzuspielen und somit etwa auch rein „virtuelle“, aber beim Kaufvorgang dennoch obligatorische Beratungen über das Internet im Rahmen des Vertriebs als gleichermaßen geeignete, jedoch weniger einschneidende Möglichkeiten, den Schutz der Gesundheit sicherzustellen, anzusehen [Rn. 69]. Darüber hinaus stellt der EuGH deutlich heraus, dass solche Beratungsvorgänge nur bei der ersten Lieferung von Kontaktlinsen notwendig seien, da nach dem ersten Gebrauch die Handhabung dieser Sehhilfen dem Kunden bekannt und geläufig sei [Rn. 71]. Darüber hinausgehende Ratschläge und Informationen könnten weiterhin auch über die jeweiligen Webseiten dem Kunden zugänglich gemacht werden [Rn. 72] oder aber durch einen qualifizierten Optiker, der aus der Ferne die entsprechenden Beratungsleistungen erbringt [Rn. 73].

Das Urteil
All dies sind mildere Mittel, als den Kunden staatlicherseits per legem in Geschäftslokalitäten zu „zwingen“ und aus dem Internet tatsächlich nur ein „Schaufenster“ zu machen, hinter dem sich unmittelbar gar kein Geschäft befindet. Dass man nur schauen, aber beim Angebot nicht zugreifen könne, obwohl den allfälligen Risiken auch im Internet gleichwertig begegnet werden könnte, stellt für den Gerichtshof eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit dar, durch die die Mitgliedstaaten klar den ihnen zugebilligten Wertungsspielraum im Bereich des Gesundheitsschutzes überschritten haben [Rn. 74 f.].

Auch in Ungarn muss man daher Kontaktlinsen über das Internet beziehen können.
Vielleicht ist dies wirklich so selbstverständlich, wie andere Kommentatoren schon immer annahmen.

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