Freitag, 1. April 2011

Bekommt Ungarn eine neue Verfassung?

von Prof. Dr. Stephan Kirste
 
Diese Frage mag überraschend klingen, ist doch die „neue Verfassung“ seit Wochen in Ungarn in aller Munde. Was ist jedoch mit „neu“ gemeint? Offenbar wird in der öffentlichen Debatte darunter einerseits mehr verstanden als eine bloße Änderung der Verfassung von 1949, denn nach der Präambel soll sie für ungültig erklärt werden. Auf der anderen Seite vollzieht sich der Prozeß der Schaffung der neuen Verfassung in den verfahrensrechtlichen Bahnen der alten Verfassung. Die Änderungen sollen aufgrund einer Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten der Landesversammlung gem. § 24 III der jetzigen Verfassung beschlossen werden.

Eine neue Verfassung im Rechtssinne bekäme Ungarn, wenn sie aufgrund der verfassunggebenden Gewalt erlassen würde. Diese Gewalt ruht beim Souverän. Dieser ist das ungarische Volk. Eine derartige Legitimation ist deshalb erforderlich, weil die Verfassung die Grundlage der Ausübung von Herrschaft über das Volk bedeutet und daher auch vom Volk legitimiert werden muß. Entscheidend ist, daß diese echte Verfassunggebung zwar frühere verfassungsrechtliche Regeln für die Änderung der Verfassung akzeptieren und übernehmen kann, an diese Regeln jedoch nicht verfassungsrechtlich gebunden ist: Für die verfassunggebende Gewalt gibt es keine verfassungsrechtlichen Bindungen. Es mag völker- und europarechtliche Verpflichtungen geben. Diese beziehen sich aber nicht auf den im Kern der Souveränität eines Staates gelegenen Prozeß der Verfassunggebung selbst. Selbstverständlich mögen auch moralische und traditionelle Bindungen der Bürger bei der Verfassunggebung bestehen, von denen sie sich leiten lassen und die häufig in den Präambeln ausgedrückt werden; rechtliche oder gar verfassungsrechtliche Bindungen sind dies jedoch nicht. Allerdings haben sich übliche Verfahren der Verfassunggebung herausgestellt. Hierzu gehört etwa die Einsetzung eines Verfassungskonvents, der den Verfassungsentwurf erarbeitet und in dem die tragenden politischen Kräfte angemessen repräsentiert sind. Ferner wird aus praktischen Gründen auf das eigentlich nach Gesellschaftsvertragstheorien (Pufendorf, Hobbes, Locke) erforderliche Einstimmigkeitsprinzip verzichtet und eine Mehrheit in der Bevölkerung als ausreichend für die Annahme der neuen Verfassung angesehen. Derartige Prinzipien sind aber wissenschaftliche Erkenntnisse und keine Rechtsprinzipien, die den Verfassunggeber binden würden. Weicht er davon ab, mag das wissenschaftlich zu kritisieren sein, führt aber nicht zu einer rechtlichen Ungültigkeit der Verfassung. So wäre auch die fehlende Legitimation zu kritisieren, wenn eine Verfassung, die ihre Legitimation nicht mehr aus der früheren ableitet, nicht einem Referendum unterworfen werden würde. Jedenfalls ist die in Ungarn durchgeführte Fragebogenaktion kein Ersatz für ein Referendum, da der Fragebogen nicht die Gesamtverfassung enthielt, sondern Fragen zu einigen – zudem eher nebensächlichen - Punkten der zukünftigen Verfassung.