Freitag, 5. November 2010

Die Mitgliedstaaten als Herren der Gesundheit ihrer Bürger


Der Einschätzungsspielraum der Mitgliedstaaten im Bereich des Gesundheitsschutzes – ein Paradigmenwechsel?

von Matthias Schäfer, LL.M.

Hatte man in der Vergangenheit den EuGH beständig im Verdacht, die Bedeutung der Grundfreiheiten und des sie konkretisierenden Sekundärrechts auch unter Verstoß gegen die grundsätzliche Zuordnung des Gesundheitsschutzes zur Zuständigkeitssphäre der Mitgliedstaaten in Art. 168 AEUV steigern zu wollen, so schlugen der Gerichtshof bzw. Generalanwalt Mengozzi in der jüngeren Vergangenheit ganz andere Saiten an und spielten wiederholt eine süße Melodie auf die Souveränität der Mitgliedstaaten in diesem Bereich.

Noch 2006 baute der EuGH in der Rs. C-372/04 – Watts die Reichweite der Grundfreiheiten konsequent immer weiter aus und engte damit den Anwendungsbereich des Art. 168 AEUV (vormals Art. 152 EG), in dem sich der Wille der Mitgliedstaaten manifestiert, dem Einfluss der Union auf die Versorgungssysteme für den Krankheitsfall und die Systeme der sozialen Sicherung enge Grenzen zu setzen, immer weiter ein.[1]
Zwar bediente sich der EuGH auch in seinem Watts-Urteil der altbekannten Formel, dass die Mitgliedstaaten ihre Befugnisse unter Rücksichtnahme auf das Unionsrecht und insbesondere unter Beachtung der Grundfreiheiten auszuüben haben[2], er wies jedoch zugleich darauf hin, dass sie sowohl das Primär- als auch das Sekundärrecht "unvermeidlich [dazu] verpflichtet", Anpassungen in ihren nationalen Systemen der sozialen Sicherheit vorzunehmen. Diese seien dann freilich nicht als Eingriff in die souveräne Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich zu werten.[3]
Damit statuierte der Gerichtshof letztlich einen Vorrang der Grundfreiheiten vor der ebenso primärrechtlich erfolgenden Kompetenzzuweisung für den Bereich des Gesundheitsschutzes an die Mitgliedstaaten.[4] Die Grundfreiheiten schienen so für eine richterlich veranlasste Harmonisierung der Gesundheitssysteme und in der EU und damit eines an internationalen – nicht nationalen – Standards ausgerichteten unionsweiten Mindestniveaus bei der Krankenhausversorgung instrumentalisiert werden zu sollen.[5] Dies widerspräche nicht nur dem in Art. 168 AEUV explizit geäußerten Willen der Mitgliedstaaten, sondern bedeutete auch die Begründung originärer, anspruchserweiternder unionsrechtlicher Leistungsrechte von Patienten auf Kosten der Mitgliedstaaten. Spätestens damit hätten die richterlichen Kompetenzen des EuGH ohne weiteres als überschritten angesehen werden können.[6]

Welch andere Melodie erklingt demgegenüber im Urteil "Doc Morris"[7] und in den Schlussanträgen von Generalanwalt Mengozzi in der Rechtssache "Ker-Optika Bt."[8]

Im dem "Doc-Morris"-Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt stellte sich die Frage, ob das Fremdbesitzverbot des deutschen Apothekengesetzes, nach dem nur Apotheker Eigentümer und Betreiber einer beschränkten Anzahl von Apotheken sein dürfen, die Grundfreiheiten in gerechtfertigter Weise einschränken. Bei der Beantwortung dieser Frage rekurrierte der EuGH ausdrücklich auf die in Art. 168 AEUV niedergelegte Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit; zugleich wies er jedoch wiederum darauf hin, dass sie bei der Ausübung dieser Befugnisse das Unionsrecht und insbesondere die Grundfreiheiten zu beachten hätten.[9] Wie schon gezeigt ist dies die gängige Formel, um selbst in den Bereichen, in denen die Union über keinerlei Zuständigkeiten verfügt, dem Europarecht zu seiner größtmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen.[10] Im Bereich des Gesundheitsschutzes erkannte der EuGH jedem einzelnen Mitgliedstaat aber ausdrücklich einen Wertungsspielraum zu, nach dem er zu bestimmen habe, auf welchem Niveau er die Höchstgüter Leben und Gesundheit seiner Bevölkerung schützen wolle.[11]
Dieser Wertungsspielraum aktualisierte sich vor allen Dingen im Bereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung beim Kriterium der Geeignetheit, wo der Gerichtshof den Mitgliedsstaaten insoweit konsequent einen Einschätzungsspielraum bezüglich der Mittel zugestand, die im Rahmen des zuvor staatlicherseits festgelegten Schutzniveaus als geeignet erscheinen.[12] Dies bewirkt eine signifikante Rücknahme der Prüfungsdichte bei der vom EuGH traditionell streng gehandhabten Verhältnismäßigkeitsprüfung[13], was insbesondere dann auffällig ist, führt man sich vor Augen, dass alle Rechtfertigungsgründe als Ausnahmen von den grundsätzlich schrankenlos gewährten Grundfreiheiten prinzipiell eng ausgelegt werden (soll(t)en). Wie aber die Ausführungen des Gerichtshofs insbesondere in den Rn. 35 und 40 des genannten Urteils zeigen, überlässt er den Mitgliedstaaten in der Tat sehr weit das Feld. Sie selbst können beurteilen, was zur Erreichung des national definierten Gesundheitsschutzniveaus geeignet ist und was nicht. Darüber hinaus dient auch die in den Rn. 41. f. postulierte zusätzliche Prüfung, ob das festgelegte Ziel auch in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird, hier erstmals auch nur dazu, die Geeignetheitsprüfung in letzter Konsequenz zu einer Plausibiltäts- und Systemkontrolle des nationalen Gesetzgebungszwecks  umzudeuten.[14]
Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung setzte sich der Gerichtshof weiterhin auch gar nicht erst mit den gegen die nationale Regelung ins Feld geführten möglicherweise milderen Mitteln auseinander, sondern wies in Rn. 55 pauschal das Vorbringen der Kommission zurück. Indem sich der EuGH wiederum auf die Einschätzungsprärogative der Mitgliedstaaten für die Formulierung des Ziels und die Wahl der zur seiner Erreichung zu ergreifenden Mittel zurückzog, kehrte er letztlich die Beweislast bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung um: nicht die Mitgliedstaaten haben die von ihnen veranlassten Maßnahmen als verhältnismäßig und damit gerechtfertigt zu verteidigen, sondern ausgehend vom Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten die gegnerischen Parteien deren Argumentation zu entkräften.[15]
Im Urteil "Doc Morris" kann demnach nicht die Rede davon sein, dass der EuGH die Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten in vertragswidriger Weise beschneiden oder gar missachten will. Im Gegenteil: er erhebt sie geradezu zu unumschränkten Herren des nationalen Gesundheitsschutzniveaus und zieht sich ohne Not aus der Prüfung der auf dieser Grundlage getroffenen Entscheidungen weitgehend zurück.

Ähnlich argumentiert auch Generalanwalt Mengozzi in seinen Schlussanträgen zum Vorabentscheidungsverfahren "Ker-Optika Bt." (Rs. C-108/09) vom 15.6.2010:
in dieser Rechtssache untersagte der ungarische Staatliche Dienst für das Gesundheitswesen (ÁNTSZ) den Vertrieb von Kontaktlinsen über das Internet mit den Argument, dass das nationale ungarische Recht für den Verkauf von Kontaktlinsen einen Verkaufsraum mit bestimmter Mindestgröße vorsehe und ein speziell ausgebildetes Personal erfordere, da der Verkauf von Kontaktlinsen als medizinische Behandlung zu klassifizieren sei. Der Generalanwalt gelangte letztlich zu der Auffassung, dass der Vertrieb von Kontaktlinsen als rein tatsächlicher Vorgang von der medizinischen Beratung als Dienst abtrennbar[16]  und als von der Warenverkehrsfreiheit erfasste Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung und damit als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit zu behandeln sei.[17]
Unter Rekurs auf Art. 168 AEUV und im Zuge dessen unter Verweis auf das "Doc Morris"-Urteil akzeptierte der Generalanwalt wie zuvor der Gerichtshof die Vorbedingung, "einen gewissen Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten" anerkennen zu müssen. Deshalb sei wiederum die "Verhältnismäßigkeit an sich" der Regelung zu prüfen, die der jeweilige Mitgliedstaat in Verfolgung des von ihm inhaltlich ausgefüllten Ziels des Gesundheitsschutzes getroffen hat.[18]

Mag der Generalanwalt im vorerwähnten Falle auch einige Widersprüche der ungarischen Regelung aufgedeckt und somit letztlich die Erforderlichkeit des Verbots des Kontaktlinsenvertriebs über das Internet verneint haben, so zeigt sich doch eines in Deutlichkeit:
Der EuGH und zumindest auch Generalanwalt Mengozzi sehen in den Mitgliedstaaten die wahren "Herren des Gesundheitsschutzes".
Es ist der europäischen Gerichtsbarkeit offenbar nicht mehr nur um die Ausdehnung der Reichweite der Grundfreiheiten zu tun, sondern sie nehmen den Souveränitätsvorbehalt in Art. 168 AEUV ernst – so ernst, dass sie sich ohne jegliche erkennbare Veranlassung fast völlig aus der strengen Geeignetheitsprüfung staatlicher Maßnahmen im Bereich des Gesundheitsschutzes zurückzieht und selbst die Erforderlichkeitsprüfung unter umgekehrten Vorzeichen betreibt, indem sie nicht die Mitgliedstaaten in die Pflicht nimmt, den Charakter ihrer Maßnahmen als mildestes Mittel darzulegen, sondern von den Prozessgegnern die Nennung milderer Mittel einzufordert.
Nimmt dies Art. 168 AEUV womöglich gar zu ernst?

Wie ernst es dem EuGH tatsächlich ist, wird sich natürlich erst zeigen, wenn das Urteil in der Rechtssache "Ker-Optika Bt." ergeht.
Darüber wird an dieser Stelle wieder zu berichten sein.



[1] Vgl. hierzu Heinz-Uwe Dettling, Ethisches Leitbild und EuGH-Kompetenz für die Gesundheitssysteme? Zugleich Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 16. 5. 2006 (Watts), in: EuZW 2006, S. 519.
[2] EuGH Rs. C-372/04, Rn. 92.
[3] EuGH Rs. C-372/04, Rn. 121, 147.
[4] Dettling, aaO., S. 520.
[5] So Dettling, aaO., S. 521.
[6]  Dettling, aaO., S. 522 f.
[7] EuGH verb. Rs. 171/07 und 172/07.
[8]  Rs. C-108/09.
[9] EuGH verb. Rs. 171/07 und 172/07, Rn. 18.
[10] Vgl. etwa den parallelen Fall im Recht der direkten Steuern, für alle exemplarisch EuGH Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 40 m. w. N.
[11] EuGH verb. Rs. 171/07 und 172/07, Rn.19.
[12] Vgl. hierzu Hans-Georg Kamann, Peter Gey, Ariane Kreuzer, Das EuGH-Urteil zum Apotheken-Fremdbesitzverbot – „Renationalisierung“ des Gesundheitssektor?, in: PharmR 2009, S. 320.
[13] Kamann, Gey, Kreuzer, aaO., S. 322.
[14] Kamann, Gey, Kreuzer, aaO., S. 322.
[15] Kamann, Gey, Kreuzer, aaO., S. 322.
[16] Schlussanträge Rs. C-108/09 Rn. 59.
[17] Schlussanträge Rs. C-108/09 Rn. 69.
[18] Schlussanträge Rs. C-108/09 Rn. 72 f.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen