Sonntag, 28. November 2010

Adel verpflichtet – nicht unbedingt.

Jedenfalls nicht zwangsläufig die österreichischen Behörden.
Zur Europarechtsfestigkeit des österreichischen Namensrechts nach den Schlussanträgen in der Rechtssache C-208/09 „Ilonka Sayn-Wittgenstein“.
Die Benennung der Schlussanträge von Generalanwältin Eleanor Sharpston in der Rechtssache C-208/09 vom 14.10.2010 nimmt das Ergebnis fast schon vorweg: das österreichische Namensrecht für die Namen Adliger ist grundsätzlich europarechtskonform. Folgerichtig ist die Rechtssache auch als „Ilonka Sayn-Wittgenstein“ bezeichnet und nicht als „Ilonka Fürstin von Sayn-Wittgenstein“.
Mit ihren Schlussanträgen in der Rs. C-208/09 könnte – so der EuGH ihnen folgt – Generalanwältin Sharpston nach den Urteilen in den Rechtssachen Konstantinidis[1], Garcia Avello[2] und Grunkin-Paul[3] einen weiteren Pflock für die euroaprechtliche Überwölbung des nationalen Namensrechts eingeschlagen haben. In den genannten Vorentscheidungen hatte der Gerichtshof jeweils die Tendenz zur Befürwortung eines Anerkennungs- bzw. Herkunftslandsprinzips erkennen lassen, durch das die nationalen IPR-Konzepte der Mitgliedstaaten und deren Ausgleich untereinander durch die dem IPR grundsätzlich fremde Akzeptanz einer im Ausland geschaffenen Rechtslage unabhängig von der Anwendung der eigenen Kollisionsnormen ersetzt zu werden drohten.[4] Die Generalanwältin hingegen verschafft in ihren Schlussanträgen einem Gesichtspunkt Geltung, wie er nationalen Gegebenheiten nicht stärker geschuldet sein könnte und der entsprechend dem klassischen IPR entlehnt scheint: sie anerkennt die grundsätzliche „Europarechtsfestigkeit“ des österreichischen Namensrechts im Hinblick auf Adelstitel, wie es sich im Zuge der Republikanisierung Österreichs im Jahre 1918 entwickelt hatte.
Anlass hierzu gab der Fall einer österreichischen Staatsbürgerin, die sich im Jahre 1991 nach deutschem Recht von dem deutschen Staatsbürger Herrn Fürst von Sayn-Wittgenstein als Kind annehmen ließ. Auf ihren Antrag hin stellten ihr die Wiener Behörden im Jahre 1992 eine Geburtsurkunde mit der weiblichen Form des Nachnamens ihres Adoptivvaters aus, so dass sie fürderhin als „Ilonka Fürstin von Sayn-Wittgenstein“ geführt wurde. Unter diesem Namen lebte und arbeitete sie hauptsächlich in Deutschland, wobei nach ihrer Aussage ihrem neuen Namen insbesondere im Rahmen ihrer Tätigkeit im Bereich der Vermittlung von Schlössern und Herrenhäusern eine entscheidende wirtschaftliche Bedeutung zukam.
2007 gelangten die Registrierungsbehörden in Wien zu der Überzeugung, dass die Eintragung von Frau Fürstin von Sayn-Wittgenstein im Geburtenbuch unrichtig sei und teilten ihr ihre Absicht mit, ihren Namen in „Sayn-Wittgenstein“ zu ändern. Hiergegen wandte sich die Beschwerdeführerin unter Berufung auf ihr Freizügigkeitsrecht als Unionsbürgerin sowie die Dienstleistungsfreiheit aus dem Europarecht sowie ihr Recht auf Familienleben aus der EMRK, so dass der Fall schließlich im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV vor den EuGH gelangte.[5]
Unter Rückgriff auf die Freizügigkeit der Beschwerdeführerin als Unionsbürgerin sowie die in der Rechtssache Konstantinidis festgestellte Grundfreiheitsrelevanz des nationalen Namensrechts[6] stellt die Generalanwältin schließlich die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Europarechts fest. Die Unionsbürgerschaft hat sich ohnehin mittlerweile als zentraler Anknüpfungspunkt für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Europarechts – insbesondere gegenüber dem Staat der eigenen Staatsbürgerschaft – etabliert hat und erfasst damit so gut wie jeden Bereich nationaler Regelungen.[7] Dies hat in der vorliegenden Sachverhaltskonstellation zur Folge, dass die Mitgliedstaaten ihre Befugnisse im Bereich des grundsätzlich in ihrer Zuständigkeit verbliebenen Namensrechts unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben haben.[8]
Aufgrund der Schwere der Nachteile, die der Beschwerdeführerin aus einer Namensänderung erwachsen würden, bejaht die Generalanwältin in Rücksicht auf die Rechtsprechung in Garcia Avello[9] und Grunkin-Paul[10] das Vorliegen eines rechtfertigungsbedürftigen Eingriffs.[11] In diesem Kriterium der Rechtsprechung kommt nicht zuletzt das grundsätzliche Interesse des Namensrechts an der Einheitlichkeit der Rechtslage zum Tragen.[12] Darüber hinaus offenbart sich hier die Bedeutung, die solch eine einheitliche Rechtslage auch für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) – sowohl in zivil- als auch strafrechtlicher Hinsicht – hat. Schließlich würde die Zusammenarbeit in Zivilsachen ebenso wie die in Strafsachen unter der Führung verschiedener Namen in verschiedenen Mitgliedstaaten leiden; damit könnten die Mitgliedstaaten sogar vertragsbrüchig im Hinblick auf ihre im Zusammenhang mit dem RFSR übernommenen Pflichten werden.[13]
Eine Diskriminierung im Sinne von Art. 18 AEUV dadurch, dass sich die Anwendbarkeit des österreichischen Namensrechts an der Staatsangehörigkeit der Betroffenen orientiert, vermochte die Generalanwältin jedoch nicht zu erblicken: Zweck des Verbots solcher Diskriminierungen ist es nicht, die Unterschiede zu beseitigen, die sich unweigerlich daraus ergeben, dass jemand die Staatsangehörigkeit des einen und nicht eines anderen Mitgliedstaats besitzt, sondern die Vermeidung weiterer Ungleichbehandlungen, die auf der Staatsangehörigkeit beruhen.“[14]
Die Generalanwältin sieht nach Durchspielen von allen ihr denkbar erscheinenden Fallkonstellationen ((1) der Name war zu jeder Zeit sowohl nach deutschem als auch nach österreichischem Recht rechtmäßig[15]; (2) der seinerzeit als rechtmäßig angesehene Name erwies sich nach späterer österreichischer Rechtsprechung als nicht rechtmäßig[16]; (3) der Name war nach keiner der beiden Rechtsordnungen jemals rechtmäßig[17]) in jedem Falle die Rechtfertigungsbedürftigkeit des österreichischen Ansinnens, den Namen ändern zu lassen, als gegeben an.[18]
Solch eine Rechtfertigung der Beschneidung der Freizügigkeit kann nach der bisherigen Rechtsprechung einerseits durch objektive Erwägungen erfolgen, die in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen, sowie andererseits durch den ordre public.[19] Dabei ist zu bemerken, dass sich der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten durch die bisherige Rechtsprechung zunehmend verengt hat.[20]
Gerade vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die Generalanwältin das österreichische Adelsaufhebungsgesetz[21] ausdrücklich als tauglichen und verhältnismäßigen Rechtfertigungsgrund ansieht, das insbesondere vor dem geschichtlichen Hintergrund seines Zustandekommens im Jahre 1919 zu sehen ist, als sich die erste österreichische Republik aus den Trümmern der k.u.k. Monarchie erhob.[22] Dies trägt in der Konsequenz geradezu die Züge eines ordre public-Vorbehalts. Der ordre public als derjenige Teil der inländischen Rechtsordnung, dessen Beachtung auch im internationalen Rechtsverkehr als unverzichtbar angesehen wird[23], dient nach seinem ursprünglichen Verständnis schließlich der Aufrechterhaltung der innerstaatlichen öffentlichen Ordnung oder sonstigen schützenswerten staatlichen Interessen.[24] § 6 des österreichischen IPR-Gesetzes[25] erkennt dies ausdrücklich an. Nicht zu unterschlagen ist insofern allerdings die konkrete Anwendungsvoraussetzung dieser Norm, nach der die nach den allgemeinen Grundsätzen des IPR anzuwendende Norm nur dann nicht heranzuziehen ist, wenn ihre Anwendung das inländische Rechtsempfinden in unerträglichem Maße verletzt.[26]
Zugleich weist die Generalanwältin – in kühner und unbelegter Spekulation: vielleicht auch ihrer Herkunft aus Großbritannien geschuldet? – jedoch darauf hin, dass die Abschaffung des Adels und aller damit zusammenhängender Privilegien und Bezeichnungen kein notwendiges Ziel aller Mitgliedstaaten darstellen muss, um die Gleichheit aller Staatsbürger sicherzustellen.[27] Diese in Österreich den Rang einer grundlegenden Verfassungsvorschrift genießende Regelung ist jedoch aus europarechtlicher Sicht als taugliche Eingriffsrechtfertigung zu akzeptieren und daher dürfen die österreichischen Behörden grundsätzlich die Eintragung solcher „adligen“ Familiennamen verweigern und den Betroffenen verbieten, diese Namen in Österreich zu führen.[28]
Grundsätzlich.
Im Einzelfall kann jedoch eine verhältnismäßige Abmilderung der Nachteile geboten sein, die durch diese Rechte des österreichischen Staates verursacht werden, wie etwa durch die Ausstellung einer „Bescheinigung über die Führung verschiedener Familiennamen“ nach dem CIEC-Übereinkommen.[29]
Im Einzelfall kann aber auch als unverhältnismäßig erscheinen, dass über lange Jahre – hier 15 – klaglos hingenommen wurde, dass ein Name mit eindeutig auf früheren Adel hinweisendem Titel und Prädikat im Geburtenbuch eingetragen war und gleichlautende Identitätspapiere ausgestellt wurden. Letztlich hat hierüber zwar das vorlegende Gericht zu entscheiden, jedoch streiten nach Ansicht der Generalanwältin „eine Reihe rechtlicher und tatsächlicher Gesichtspunkte“ für die Annahme der Unverhältnismäßigkeit.[30]
Betrachtet man die Schlussanträge von Generalanwältin Eleanor Sharpston in ihrer Gänze, so lässt sich ihnen deutlich entnehmen: das österreichische Namensrecht ist als Konkretisierung des Adelsaufhebungsgesetzes von 1919 als Ausdruck und Identitätskern sozusagen „höchstpersönlicher“ österreichischer Geschichte europarechtsfest.
Die Generalanwältin versucht damit, die bisher vorherrschende Tendenz des EuGH, die Mitgliedstaaten zur Anerkennung von in anderen Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidungen zu verpflichten, zurückzudrängen. Sie würde dieser dem IPR an sich fremden Vorgehensweise somit Korrektiv setzen, nämlich die Anerkennung eines ordre public-Vorbehalts, der wiederum dem IPR ureigen ist. Als solchen könnte man wohl das Rekurrieren auf die jedem Mitgliedstaat eigenen geschichtlichen Hintergründe auffassen, so dass – wenigstens im hier vorliegenden Bereich des Namensrechts und dort auch nur im ausnahmsweise auftretenden Einzelfall – wieder mehr klassisches Kollisionsrecht und weniger europarechtlich vermittelte Anerkennungsdogmatik gelten würde – natürlich mit der Folge, auch das übergeordnete Ziel des internationalen Entscheidungseinklangs der Wirksamkeit der negativen Dimension des ordre public, im Sinne der Abwehr abweichender ausländischer "Wert"vorstellungen, preiszugeben.[31]
Ob der Gerichtshof diesem Gedankengang folgen wird, wird sich zeigen – und an dieser Stelle besprochen werden.
Ob darüber hinaus der in diesen Schlussanträgen zutage tretende Grundgedanke auch in anderen – historisch ebenfalls sensiblen – Bereichen Anwendung finden kann (man denke etwa an Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch das Verbot der Volksverhetzung o. ä.), steht wiederum auf einem ganz anderen Blatt...


[1] Urt. v. 30.03.1993, Rs. C-168/91 (Konstandinis), Slg. 1993, I-01191.
[2] Urt. v. 02.10.2003, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613.
[3] Urt. v. 14.10.2008, Rs. C-353/06 (Grunkin-Paul), Slg. 2008, I-07639.
[4] Nikola Koritz, Namensrecht und Unionsbürgerschaft – Oder die Frage, ob ein Doppelname europaweit anzuerkennen ist, in: FPR 2008, S. 213 (214), insbesondere zu den Voraussetzungen einer solchen „Anerkennungspflicht“.
[5] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 25 ff.
[6] EuGH Urt. v. 30.03.1993, Rs. C-168/91 (Konstantinidis), Slg. 1993, I-01191, Rn. 15.
[7] Philipp Kubicki, Kurze Nachlese zur Rechtssache Grunkin-Paul – Art. 18 EG und die Rechtsfolgen eines Verstoßes, in: EuZW 2009, S. 366 (366 f., auf S. 369 bezeichnet Kubicki die unionsbürgerschaftliche Freizügigkeit zudem als „Türöffner des EG-vertraglichen Anwendungsbereichs und materiellen Prüfungsmaßstab für nationales Recht“).
[8] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 35 f.; EuGH Urt. v. 14.10.2008, Rs. C-353/06 (Grunkin-Paul), Slg. 2008, I-07639, Rn. 16; EuGH Urt. v. 02.10.2003, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613, Rn. 25-27.
[9] EuGH Urt. v. 02.10.2003, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613 , Rn. 36.
[10] EuGH Urt. v. 14.10.2008, Rs. C-353/06 (Grunkin-Paul), Slg. 2008, I-07639, Rn. 23-28.
[11] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 40, 44 ff.
[12] Koritz, aaO., S. 213 (214).
[13] Jürgen Rieck, Anerkennung des Familiennamens in Mitgliedstaaten – Grunkin-Paul, in: NJW 2009, 125 (128).
[14] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 39; fast wortgleich Schlussanträge v. 24.04.2008, Rs. C-353/06 (Grunkin-Paul), Rn. 62.
[15] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 55.
[16] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 56.
[17] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 57.
[18] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 58.
[19] Vgl. Rieck, aaO., S. 125 (127).
[20] Vgl. Kubicki, aaO., S. 368.
[21] Gesetz vom 3. April 1919 über die Aufhebung des Adels, der weltlichen Ritter- und Damenorden und gewisser Titel und Würden.
[22] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 59-62, 65.
[23] Bernd v. Hoffmann / Karsten Thorn, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2007, § 6 Rn. 136.
[24] v. Hoffmann/Thorn, aaO., § 6 Rn. 137.
[25] Bundesgesetz v. 15.06.1978 über das internationale Privatrecht (IPR-Gesetz), BGBl.Nr. 304/1978).
[26] Robert Dittrich / Helmuth Tades, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, 21. Aufl. 2007, § 6 IPRG, S. 675.
[27] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 60.
[28] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 65.
[29] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 66 m. w. N.
[30] Schlussanträge v. 14.10.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein), Rn. 67 f.
[31] v. Hoffmann/Thorn, aaO., § 6 Rn. 142.

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